Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm • Dr. Frey
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Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

Über die schwierige Balance zwischen Nacheifern und Abgrenzung

Aus der Entwicklungspsychologie weiß man heute, dass Kinder ihre Eltern in den ersten Lebensjahren ziemlich unreflektiert imitieren. Was zu Hause passiert, ist für kleine Kinder das unumstößliche Regelwerk, nach dem die Welt funktioniert. Wenn die Eltern sich anschreien und ständig streiten, lernt das Kind: So gehen Menschen miteinander um. Die Kinder haben noch nicht die kognitiven Fähigkeiten ihre Eltern zu hinterfragen. Ob diese sich anschreien oder bei Rot über die Straße laufen – daran werden sich die Kinder orientieren.

Nun könnte man sich als Vater oder Mutter sagen, ich gehe jetzt mal ausnahmsweise bei Rot über die Straße, es sieht ja völlig ungefährlich aus und sage meinem Kind : Morgen auf dem Schulweg machst du das aber bitte nicht!

Der Entwicklungspsychologe Moritz Daum* hat darauf eine klare Antwort. „Je nach dem Alter würden Sie ihr Kind vermutlich überfordern. Die exekutiven Funktionen unseres Gehirns, also das Kontrollsystem, entwickeln sich beim Menschen sehr langsam. Das dauert bis ins junge Erwachsenenalter. Wenn die Eltern mit ihrem Kind über Rot gehen, lernt es: Ah, okay, man kann also auch über Rot gehen. Im Grundschulalter kann es aber auch noch nicht einschätzen, wann das sicher ist.“

Erwachsene machen jede Menge Dinge, die Kinder nicht nachmachen sollten: zu viel Wein trinken, mal eine rauchen, auf dem Fahrrad keinen Helm tragen, den eigenen Körper schlecht finden, fluchen. Sollten sie das nun alles während ihre Elternjahre sein lassen? Ganz so schlimm kommt es zum Glück nicht. Moritz Daum weiß aus seinen Studien an der Universität Zürich: Kinder sind Statistiker. Wenn sie ein Wort häufiger hören, lernen sie es besser, als wenn sie es selten hören. Und wenn Eltern ganz selten ein bestimmtes Verhalten zeigen, dann geht das im Alltag unter. „Im durchgetakteten Alltag von Familien heute immer kindgerecht zu performen, ist für Eltern gar nicht zu schaffen. Eltern müssen nicht perfekt sein, es reicht, wenn sie ausreichend Fürsorge und Unterstützung bieten, um ihrem Kind eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen. Es darf auch mal vorkommen, dass Eltern ein Glas Wein zu viel trinken oder rumbrüllen, weil sie es nicht anders hinkriegen“, erklärt Daum. Eltern können sich in einem solchen Fall bei den Kindern entschuldigen, ihnen sagen, dass sie ihr Verhalten selber nicht so toll finden und das nicht hätte passieren dürfen. Kinder sind erstaunlich resilient, sie ertragen das. Und sie machen eine weitere wichtige Erfahrung. Sie lernen: Fehler können und dürfen passieren. Fehler machen sogar meine Eltern, die eigentlich doch alles können.

Ein anderes Thema, das manche Eltern beschäftigt, sind negative Erfahrungen, die man aus der eigenen Kindheit mitbringt. Eine Mutter zum Beispiel findet sich zu dick, weil ihr das früher immer gesagt wurde. Jetzt will sie, dass die Tochter ein positiveres Körpergefühl als sie entwickelt. Wie bekommt sie das hin?

Moritz Daum sieht hier die Verantwortung der Eltern, die es in der Hand haben, was sie vor dem Kind bewusst nicht thematisieren. Er nennt ein Beispiel: „Ein Elternteil, der am Familientisch ständig über seine Diät und die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper spricht, muss damit rechnen, dass die Kinder seine Sicht möglicherweise übernehmen. Studien haben gezeigt, dass Eltern ihr negatives Körperbild an ihre Kinder weitergeben können und damit das Risiko für Essstörungen steigt. Manches sollten Eltern mit sich selbst ausmachen.“

In der Erziehungsberatung wird immer wieder von Eltern eine große Sorge vorgetragen: Alles, was wir tun, prägt unser Kind – wenn es mal verkorkst ist, ist es unsere Schuld.

Hier kann man beruhigen. „Kinder sind nicht nur Statistiker, sondern auch Spießer. Sie wünschen sich eine verlässliche, vorhersehbare Umwelt,“ sagt Moritz Daum. Eltern dürfen die Angst ablegen, dass vereinzelte Vorkommnisse einen wichtigen Einfluss auf ihre Kinder haben. Von dem Entwicklungspsychologen Erik H. Erikson** stammt der Begriff des Urvertrauens, das im ersten Lebensjahr entsteht. Wenn dieses Urvertrauen da ist, dann kann auch mal an ihm gerüttelt werden, und es fällt nicht gleich alles zusammen. Natürlich ist in den ersten Lebensjahren der Einfluss der Eltern riesig. Er wird aber mit der Zeit immer geringer. Eltern geben ihren Kindern ihre Familienkultur und ein Genpotential mit. Die Familienkultur wird mit steigendem Alter immer unwichtiger und die Gene und die außerfamiliäre Umwelt immer wichtiger.

So zu werden wie die eigenen Eltern scheint für viele Menschen eine schlimme Vorstellung zu sein. Die einst unhinterfragten Vorbilder werden später zu ambivalenten Figuren. Die einstigen Kinder grenzen sich ab. Diese Rebellion und die Abnabelung von den Eltern gehören zum Heranwachsen dazu. Aber es hilft, wenn man in der Kindheit und Jugend nicht die ganze Zeit kämpfen musste. Eltern können den Widerstand verringern, indem sie ihrem Kind Freiheiten lassen. „Studien haben gezeigt, dass stark kontrollierte und unsicher gebundene Kinder stärker rebellieren als jene, die viel Vertrauen und Raum bekommen haben. Das heißt natürlich nicht, dass alle Eltern, die liebevoll und vertrauensvoll erziehen, stets angepasste und freundliche Jugendliche im Haus haben. Alle Kinder werden irgendwann gegen ihre Eltern mehr oder weniger rebellieren. Das ist ein wichtiger Entwicklungsprozess. Dieser kann aber mehr oder weniger ausgeprägt sein. Und vielleicht hilft es den Eltern ein wenig, es auch als Kompliment zu sehen, wenn die Teenagertochter sie ständig anschnauzt. Sie zeigt damit: Ich weiß, dass ich bei euch all` meinen Mist abladen kann – und trotzdem geliebt werde.“ (Moritz Daum)

Das Nacheifern oder auch das Abgrenzungsbedürfnis gegenüber den Eltern kann der Identitätsentwicklung der erwachsenen Kinder aber auch im Weg stehen.

„Wenn junge Menschen ihre Identität durch Ausprobieren finden und sie dabei manchmal auch gegen eine Wand laufen, nennt man das eine erarbeitete Identität (James Marcia***). Solche Entscheidungen führen zu einem viel besseren Wohlbefinden und mentaler Gesundheit. Dieser Weg hat dann nichts mit Nacheifern oder Abgrenzung von den Eltern zu tun, sondern damit, selbst und frei entschieden zu haben. So können wir zu der Person werden, die wir sein wollen. Dafür bedarf es auch eines hohen Maßes an Reflexion. Die Fähigkeit dazu entwickelt sich erst relativ spät.“ Die exekutiven Funktionen des Gehirns entwickeln sich nach heutigen Kenntnissen bis Mitte zwanzig. Sie erst befähigen uns, unsere Gedanken und unser Handeln zu kontrollieren und verschiedene Möglichkeiten gegeneinander abzuwägen. Junge Erwachsene müssen eine Zeit lang ein eigenes, unabhängiges Leben geführt haben, bis sie reflektieren können: Ich mache etwas zwar genau so, wie meine Eltern es vorgelebt haben, aber nun ist es meine eigene, bewusste Entscheidung. Dann bekommt die eigene Identität Platz, sich zu entfalten.

*Moritz Daum (*1973) ist Professor für Entwicklungspsychologie an der Universität Zürich

Mechanismen der frühkindlichen Entwicklung des Handlungsverständnisses, Leipzig 2011

Interview in DIE ZEIT vom 25.07.2024

**Erik H. Erikson (*1902 – 1994) war ein deutsch-amerikanischer Psychoanalytiker Er forschte über ein Modell der psychosozialen Entwicklung

***James Marcia (*1937) ist ein kanadischer Psychologe US-amerikanischer Herkunft. Er lehrt an der Simon Fraser University in British Columbia und an der State University New York. Umfangreiche Forschungen zur Entwicklung der Ich-Identität von Jugendlichen